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Sozialphobie - Das giftige Geheimnis in der Hosentasche

Stell Dir vor, Du bist 10 Jahre alt. Du bist stinksauer auf Deine Oma, weil sie mit Deiner Mama über etwas gesprochen hat, was Du ihr eigentlich im Vertrauen erzählt hast. Das Ding ist so groß für Dich, dass Du abends im Bett liegst und in Deiner ganzen kindlichen Wut betest: "Ich wünschte, Oma wäre tot".

 

Und nun stell Dir folgendes vor:

Ein paar Tage später sind alle um Dich herum in heller Aufregung. Mama weint die ganze Zeit und Papa versucht irgendwie, sie zu trösten. Du ahnst: "Etwas sehr Schlimmes ist passiert". Aber keiner redet mit Dir. Du fühlst Dich total verunsichert. Du hast wahnsinnige Angst, was es sein könnte, denn Dir ist klar: "Was hier gerade vor sich geht, ist wichtig". Du weißt nicht, wie Du Dich verhalten sollst. Die beste Strategie scheint, Dich unsichtbar zu machen, da Deine Eltern gerade offensichtlich ganz und gar keine Zeit für Deine Fragen haben. Also ziehst Du Dich zurück mit all Deiner Angst und Verunsicherung. Du krabbelst in Dein Bett und ziehst Dir die Bettdecke über den Kopf. Mama und Papa nicht noch mehr Sorgen machen. Vielleicht sogar um den kleinen Bruder kümmern, weil Mama das gerade nicht kann.

 

Am nächsten Tag findest Du dann doch heraus, worum es geht. Oma hatte einen Autounfall und ist nun tot. Wums - das sitzt. Sofort beziehst Du alles auf Dich und Dein verzweifeltes Stoßgebet ein paar Abende zuvor. Den Tod Deiner Oma selbst. Die ganze Traurigkeit Deiner Mama. Papas Hilflosigkeit. Alles hat mit Dir zu tun. Du bist Schuld - an allem!!! Sofort möchtest Du Dein Gebet rückgängig machen aber das funktioniert natürlich nicht. Oma ist tot und nach einiger Zeit begreifst Du, dass sie das auch für immer bleiben wird. Das hast Du nicht gewollt. Du liebst Deine Oma doch. Wirklich! Aber Du hast es Dir gewünscht und nun ist es passiert. Endgültig. Daran gibt es nichts mehr zu rütteln.

 

Dein Schuldgefühl ist so riesengroß, dass Du auch nach Jahren nicht schaffst, Dich Deinen Eltern anzuvertrauen. Du bist einfach ganz sicher, dass Oma wegen Dir gestorben ist. Welch eine Last. Es ist wie ein giftiger, riesengroßer Stachel, den Du die ganze Zeit in Deiner Hosentasche mit Dir herumträgst und jedes Mal, wenn Du Dich hinsetzen und entspannen möchtest, tut er weh und lässt Dich nicht zur Ruhe kommen. Du findest keinen Schlaf. Du entwickelst Einschlafstörungen, wachst nachts häufig auf, hast vielleicht Alpträume. Du weißt, Du bist ein schlechter Mensch und es fühlt sich an, als würden alle es Dir an der Nasenspitze ansehen. Deshalb möchtest Du Dich am liebsten Unsichtbar machen. Du magst im Restaurant kein Essen bestellen. Du fühlst Dich in Deiner Schulklasse unwohl und ständig beobachtet. Die Menschen scheinen Dich mit bösen und tadelnden Augen anzuschauen. Dein Gefühl ist: "Alle denken schlecht über mich". Deine Lehrer, die Verkäuferin an der Wursttheke, Deine Mitschüler. Du ziehst Dich möglichst unauffällig an. Du schaust oft zu Boden. Du würdest Dich am liebsten nie zu Wort melden und wenn es nötig ist, denkst Du: "Alle verurteilen mich". Über die Jahre gewöhnst Du Dich an Dein giftiges Geheimnis in der Hosentasche. Es gehört zu Deinem Leben. Manchmal kannst Du es verdrängen. Vielleicht vergisst Du sogar manchmal, dass es da ist. In Prüfungssituationen hast Du Panikattacken und Blackouts, obwohl Du so ehrgeizig bist und immer versucht, ein guter Mensch zu sein. Irgendwie musst Du doch beweisen, dass Du gut bist. Auch wenn Du weißt, dass das nicht mehr geht seit Omas Tod. Die tiefen Schuld- und Schamgefühle bleiben. Du hast eine Sozialphobie entwickelt.

 

Natürlich ist dies nur ein erfundenes Beispiel. Soziale Phobien haben meistens mit viel Schamgefühl zu tun. Es lohnt sich, genau hinzuschauen, wenn Klienten über die o. g. Symptome klagen. Wenn sie es schaffen, in der Therapie ihr giftiges Geheimnis aus der Hosentasche zu nehmen und dorthin zu geben, wo es eigentlich hingehört (in diesem Fall könnte es z. B. der Autofahrer sein, der Oma tot gefahren hat), kann eine große Erleichterung eintreten. Also - wenn Du Dich hier wieder findest, nimm nicht hin, dass es für immer so bleiben muss. Vertraue Dich jemandem an und lasse Dir helfen. Denn kein Kind dieser Welt hat die Macht, seine Oma mit bösen Gedanken zu töten...

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