Im Moment arbeite ich viel - sehr viel! Und ich habe viel mit meiner Familie zu tun. Und trotzdem habe ich es heute, an diesem wunderschönen spätsommerlichen Sonntag geschafft, mir den Freiraum für meine Laufeinheit zu nehmen. Das sind eineinhalb Stunden wohlfühlen, Kraft tanken, abschalten, bei mir sein, etwas für meine Fitness tun und das alles direkt am Deich. Also meine ganz persönliche, absolute Qualitytime. Und diese nehme ich mir inzwischen seit vielen Jahren so regelmäßig es eben geht.
Ich laufe also los - voller Freude, ganz bei mir. Ich bin stolz auf mich, dass ich gut für mich sorge trotz all der Herausforderungen, die mein Leben so zu bieten hat.
Auf einmal kommen mir zwei Radfahrer entgegen. Typische Sonntagsfahrer. Ein älteres Ehepaar - natürlich mit E-Bike. Ist ja sonst zu sportlich. Beige Hose, beige Schuhe, kariertes Hemd (beide!) Ich laufe ambitioniert und beschwingt meinen Weg und grüße, wie man das so am Deich macht, mit einem freundlichen "Moin". Da passiert es: Der Mann dreht sich nach mir um und sagt laut (so laut, dass ich es hören muss): "Quadratisch, praktisch, gut". Und was macht seine Frau? Statt ihn für diese Unverschämtheit von seinem Pedelec zu reißen und ihm seine arrogante Fresse zu polieren, stimmt sie ihm durch ein süffisantes Lachen zu.
Nachdem ich kurz innerlich in mich zusammen sacke, wie von einem Dolch durchstoßen, beschließe ich, mir in diesem Moment eine gute Psychotherapeutin zu sein und ich höre, was diese mir zu sagen hat.
"Dinah, dieser Mann hatte höchstwahrscheinlich einen kalten, herzlosen Vater, dem er nie genug war. Er wurde wahrscheinlich missachtet und verhähmt und er hat ihn vermutlich immerzu spüren lassen, für was für einen Looser er ihn hält. Und weil er sich nie getraut hat, sich gegen seinen Vater aufzulehnen, weil er Angst vor ihm hatte, hat er irgendwann angefangen, sich über andere zu stellen, indem er sie schlecht macht. Das poliert seinen Ego auf. Der kleine, ungeliebte Junge musste in seiner Kindheit solch eine Strategie entwickeln. Sonst wäre er emotional vor die Hunde gegangen. Und er hat dieses Schattenthema in seinem Leben niemals bearbeitet und somit agiert er immer noch wie dieser kleine, ungeliebte Junge, der sich über andere Stellen muss, damit er es einigermaßen mit seinem klitzekleinen Selbstwertgefühl aushalten kann. Nur dass man es heute narzisstische Persönlichkeitsstörung nennt."
Puh - ich bin erstmal erleichtert, dass diese verbale Attacke augenscheinlich rein gar nichts mit mir als Person sondern nur mit diesem armen kleinen ungeliebten inneren Jungen, der da gerade auf seinem Pedelec an mir vorbeigeradelt ist, zu tun hat.
Ich beschließe, mich noch ein wenig aufzuheitern, in dem ich mir aufzähle, was ich alles trotz meiner quadratisch, praktisch, guten Figur kann, bin und habe:
Ich bin quadratisch, praktisch, gut und habe eine tolle Familie.
Ich bin quadratisch, praktisch, gut und habe ein wunderschönes Haus mit einem traumhaften Garten.
Ich bin quadratisch, praktisch, gut und habe einen fantastischen Freundeskreis.
Ich bin quadratisch, praktisch, gut und habe eine eigene Praxis für Psychotherapie.
Ich bin quadratisch, praktisch, gut und bin kreativ.
Ich bin quadratisch, praktisch, gut und kann singen.
Ich bin quadratisch, praktisch, gut und koche für mich und meine Familie gesundes Essen.
Ich bin quadratisch, praktisch, gut und sportlich.
Ich bin quadratisch, praktisch, gut und hübsch.
Ich bin quadratisch, praktisch, gut und gesund.
Ich bin quadratisch, praktisch, gut und kann gut für mich sorgen.
Ich bin quadratisch, praktisch, gut und liebe mich selbst. Aber nicht auf eine narzisstische Weise!!!
Ich bin quadratisch, praktisch, gut und lebe in Fülle.
Ich bin quadratisch, praktisch, gut und wenn ich berührt bin, zeige ich das.
Mir fällt auf, dass ich weniger quadratisch und praktisch und erst recht kein Opfer bin aber dafür umso mehr gut. Und damit ist mein Sonntag dann doch nicht so versaut, wie ich erst dachte.
Falls Du das liest, alter, ungeliebter Mann: Ich hätte noch freie Termine in meiner Praxis... Da könntest Du mit Deinem Pedelec mal vorbeiradeln. Und am besten bringst Du Deine Frau gleich mit. Die scheint da auch noch das ein oder andere Thema zu haben, was sie sich mal angucken sollte...

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Antje (Montag, 31 August 2020 07:35)
Super Artikel Dinah!