Oft werde ich gefragt, wie ich es aushalte, mich so viel mit den Problemen anderer Menschen zu beschäftigen. Ob es mich nicht sehr stark mitnähme, mir all die Schicksale - teilweise schlimme Schicksale - anzuhören, mit zu fühlen und psychotherapeutisch zu begleiten.
Meine Antwort darauf lautet: NEIN!
Erst gestern machte ich wieder die Erfahrung, dass Geben besser denn Nehmen ist.
In unserem Arbeitskreis für freie Psychotherapeuten, der einmal im Monat stattfindet, geht es um Supervision und um Vertiefung. Um Vertiefung der Methodenkompetenz aber eben auch um Vertiefung der Selbsterfahrung. Mein Status quo zu dem Zeitpunkt: Als ich in die Gruppe kam, war ich erschöpft davon, dass mich seit mehreren Tagen unerträgliche Kopfschmerzen quälten. Ich hatte eine anstrengende Woche und am Vorabend ein Chorkonzert mit anschließendem Umtrunk. Ich war an diesem Tag die Leitung des Arbeitskreises und hatte mich vorbereitet, um die anderen Teilnehmer durch den Vormittag zu führen. Die vier Stunden intensive Arbeit standen mir etwas bevor und gleichzeitig freute ich mich darauf.
Während unseres vierstündigen Arbeitskreises drängte sich immer wieder das Thema einer Teilnehmerin in den Vordergrund. Da war offensichtlich eine offene Gestalt (wie wir Gestalttherapeuten sagen), die dringend angeschaut und geschlossen werden wollte. Also nahmen wir uns unserer Kollegin an und begannen, gruppentherapeutisch zu arbeiten. Die Kollegin war so verstrickt in ihrem Thema und agierte so stark aus dem Kopf heraus, dass wir entschieden, sie mit intuitiver Leibarbeit, eine Methode aus der Körperpsychotherapie, in ihr Gefühl und ihren Körper zu bringen. Raus aus dem Kopf. Die Stimmung war wunderschön. Vier Menschen gaben einem Menschen. Ganz ohne etwas zu wollen - einfach um zu geben. So hatte das eigentliche Kernthema, um das es ging, den Raum, sich zu zeigen. Wir widmeten uns eineinhalb Stunden diesem Thema und stellten das Familiensystem auf. Alle waren aus vollem Herzen bei der Klientin. Wir nahmen die Rollen ein, die für die Aufstellung nötig waren und durchlebten alle Gefühle, Verstrickungen und am Ende die Auflösung. Es gibt ein Wort, das unseren Zustand in dem Moment gut beschreibt: Flow. Wir waren im Flow. Das Gesicht und die Körpersprache unserer Kollegin nach dieser Arbeit war ein Fest für alle Sinne. Das, was wir getan hatten, war etwas wirklich richtig Gutes. Wir waren alle glücklich und erfüllt von dieser intensiven Arbeit.
Als ich nach dem Workshop nach Hause fuhr merkte ich, wie frei und beschwingt ich war. Ich hatte keine Kopfschmerzen mehr und der Stress der vergangenen Woche war wie weggeblasen. Ich war zutiefst dankbar und erfüllt, dass ich diese Stunden erleben durfte. Wenn wir jemand anderem aus vollem Herzen bei der Heilung begleiten, kann auch in uns Heilung geschehen. Das ist der Grund, warum ich obige Frage klar mit NEIN! beantworten kann.
Und nächstes Mal, wenn ich den Workshop leite, werde ich nichts vorbereiten - es kommt sowieso immer anders als man denkt!
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