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Fasching: Eine Abweichung von der Norm

Am Vorabend ist an Einschlafen kaum zu denken. Der ganze Sonntag ist schon geprägt von Hibbeligkeit und unterschwelliger Unsicherheit, was der morgige Faschingstag bringen wird. Fasching in der Schule ist eine Abweichung von der Norm. Abweichungen von der Norm verheißen für einen Menschen mit FASD nichts Gutes. Am besten ist es, wenn alles nach Schema F läuft. Das birgt am wenigsten Herausforderungen für das durch Alkohol in der Schwangerschaft geschädigte Gehirn.

 

Am Faschingsmorgen dann klammert sich mein Kind beim Aufwecken regelrecht an mich und will mich kaum gehen lassen. Es braucht meinen Schutz, weil wahrscheinlich schon die Nacht geprägt war von weniger guten Träumen über das bevorstehende Ereignis.

 

Dann geht die erste große Herausforderung los: Kostüm anziehen. Es zwickt hier und kratzt da, es sitzt nie richtig. Die Haarklammer, mit der wir den Indianerschmuck befestigen, ziept. Alkoholgeschädigte Kinder sind sehr empfindlich mit der Haut. Schon ein Knopf an einer Jeans kann sie verrückt machen. Sie können sich auf kaum noch etwas anders konzentrieren als auf diesen blöden Knopf an der Hose. Was bedeutet dann erst eine ziepende Haarklemme auf dem Kopf, gepaart mit Indianerschmuck am Hals und einem schlecht sitzenden Kostüm aus Polyester?! Außerdem fühlt sich die Schminke im Gesicht so komisch an... Die Körpersensationen überschlagen sich in unerträglicher Art und Weise.

 

Dann die nächste Herausforderung. Die Kinder sollen heute keinen Schulranzen mitbringen. WAS? Ohne Ranzen in die Schule? Totale Verunsicherung. Sollte ich vielleicht doch einen Ranzen mitbringen? Was ist, wenn alle ihren Ranzen dabei haben, nur ich nicht? Nein – Du brauchst heute keinen Ranzen… Ganz sicher – verlass Dich auf mich! OK. Aber nur nach mehrmaliger Rückversicherung, dass auf Mama auch wirklich, wirklich, wirklich Verlass ist. Mama, bist Du Dir auch ganz, ganz sicher??? (Adoptiv- und Pflegekinder sind oft sehr misstrauisch, denn sie haben in der Regel schon viel mitgemacht).

 

Abfahrt in Richtung Schule. Im Auto geht es wieder los. Ist heute ganz sicher Fasching? Sicher haben wir uns im Tag geirrt und ich bin die Einzige, die verkleidet kommt. Was für eine furchtbare Vorstellung. Nein, mein Kind – heute ist ganz sicher Fasching! Wirklich, ganz, ganz sicher… Die Anspannung steigt ins Unermessliche.

 

Eigentlich ist alles zu viel. Plötzlich lauter Mäuse, Polizisten, Cowboys und Clowns in der Schule. Das Schlimmste aber sind die Darth Vaders, Vampire, Mumien, Skelette, Monster und Hexen. Kein Lehrer oder Schulbegleiter sieht mehr so aus wie vorher. Alle sind laut und wild und mein FASD-Kind nimmt alles für bare Münze. Wer so gefährlich aussieht, ist es heute ganz sicher auch. Späße kann man mit FASD nicht gut verstehen. Nein, wenn jemand etwas sagt, dann meint er es auch so. Konkretismus nennt man das im Fachjargon.

 

Einfach einen ganz normalen Schultag mit Ranzen, Schulbrot und bequemer Leggings – das ist es, was mein Kind jetzt braucht. Aber ich – ich gehe zur Arbeit und schicke mein Kind in die wilde Faschingswelt. Schon zwei, die sich schlecht fühlen… Aber morgen, morgen ist unsere Schema-F-Welt wieder in Ordnung.

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Dinah-Ann Lendzian, Heilpraktikerin beschränkt auf das Gebiet der Psychotherapie (nach HeilprG)