Neulich im Amtsgericht: Ich sitze in einer Halle, von der viele, viele Türen abgehen. Hinter jeder Tür verbirgt sich ein Gerichtssaal. Ich bin als Begleiterin dort und sitze fast zwei Stunden in dieser Halle, habe also ausreichend Zeit, mir über das Treiben hier so meine Gedanken zu machen. Alle paar Minuten ertönt über einen überdimensional lauten Lautsprecher (ok, heißt ja schließlich auch LAUT-sprecher), Namen von Zeugen, die gebeten werden, in diesen oder jenen Gerichtssaal einzutreten. Das irritiert mich, spricht doch alle Welt von Datenschutzverordnungen?!
Beflügelt von diesen konkreten Informationen (der Name ist immerhin eine sehr persönliche und aussagekräftige Information) nimmt meine Phantasie Fahrt auf. Der Mann da im Rollstuhl, er heißt Herr B. Der hat doch sicher einen Unfall gehabt und trifft nun im Gerichtssaal auf seinen Unfallgegner, der vergessen hat zu blinken und dem ahnungslosen und stets korrekten Autofahrer, Herrn B. die Vorfahrt genommen und somit verschultet hat, dass Herr B. nun für den Rest seines Lebens im Rollstuhl sitzen muss…
Oder Herr W. (wenn ich es richtig verstanden habe), der so aufgebracht vor dem Gerichtssaal seiner Begleitung erzählt hat, dass es eine Riesenunverschämtheit sei, dass ein Drogentest von ihm verlangt wurde. Er und Drogen… Also – NIEMALS. Meine Phantasie meldet sogleich: „Naja, ein bisschen sieht der ja schon so aus, als würde er ab und zu mal…“ und „der hat bestimmt unter Drogen unschuldige Menschen in der S-Bahn bedroht. Und bestimmt macht er das öfter, so wie der aussieht“.
Huiuiuiuiui – unsere Phantasie arbeitet aber manchmal auch wirklich entgegen jeder Toleranz und Vernunft. Aber die Frage ist ja nun wieder einmal: Was lerne ich aus meinem zweistündigen, mehr als lehrreichen Aufenthalt im Amtsgericht? Fälle niemals ein vorschnelles Urteil über einen Menschen oder eine Situation. Bedenke immer den sogenannten Konstruktivismus. Das bedeutet, dass die Umwelt, so wie wir sie wahrnehmen, unsere eigene Erfindung ist. Jeder Mensch hat seine eigene Wahrheit.
Herr B. z. B., sitzt vielleicht einfach nur vorübergehend im Rollstuhl, weil ihm aus Versehen ein Holzscheit beim Holzhacken auf den Fuß gefallen und dieser nun gebrochen ist. Und Herr W. hat vielleicht seinen Bruder an Drogen verloren und sich schon als dreizehnjähriger geschworen, nie aber auch wirklich niemals in seinem Leben Drogen zu nehmen…
Jeder hat seine eigene Wahrheit und wir würden alle gut daran tun, uns mit Vorurteilen zurückzuhalten. Wenn wir es schaffen, stattdessen unsere geniale Phantasie in die Rettung der Umwelt, Beendigung der Kriege und den Schutz unserer Kinder zu investieren, wäre das sicher ein großer Gewinn! Es lebe die Phantasie!
(Anm. d. Red.: Alle Namen und Geschichten sind frei erfunden!)
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